Naiver Realismus

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

1. Für den naiven Realisten ist der Gedanke an die Mög­lichkeit einer »jenseits« unserer Welt existierenden Wirklichkeit bereits durch den Hinweis auf seine unmittelbare Erfahrung widerlegt. Wer nur an das glauben will, was er »anfassen« kann, nur das, von dessen Realität er sich dadurch vergewissern zu können meint, dass er es sehen, hören oder auf andere Weise wahrnehmen kann, für den bezieht sich alles Reden über eine solche Möglichkeit auf ein bloßes Hirngespinst.

Das objektive Fundament jedoch, auf das ein Realist solchen Kalibers sich beruft ist weitaus weniger solide, als ein so ungebrochenes Vertrauen auf wahrnehmbare Objektivität es für möglich hält. Der »naive Realismus« ist seit mehr als 2000 Jahren, seit Plato, als Illusion durchschaut. Welches sind die Argumente?

Stellen wir uns die Frage, ob es eigentlich dunkel im Kosmos würde, wenn alle Augen verschwänden? Fragen dieser Art stehen am Anfang aller erkenntnistheoretischen Überlegungen. »Hell« und »dunkel sind, wie jeder feststellen kann, der sich die Mühe macht, darüber nachzudenken, nicht Eigenschaften der Welt, sondern »Seherlebnisse«: Wahrnehmungen, die entstehen, wenn elektromagnetische Wellen bestimmter Länge - zwischen 400 und 700 Millionstel Millimetern - auf die Netzhaut von Augen fallen. Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass das auch für tierische Augen gilt, und wir wissen sogar, dass die Länge der den Eindruck »hell« hervorrufenden Wellen bei manchen Tieren von den Frequenzen abweicht, die für menschliche Augen gelten. [...] Der wirklichen Situation wird man nur dann gerecht, wenn man annimmt, dass in der Außenwelt elektromagnetische Wellen der verschiedensten Längen (oder was auf dasselbe herausläuft, »Frequenzen«) existieren, dass unsere Augen auf einen (vergleichsweise außerordentlich kleinen) Ausschnitt dieses »Frequenzbandes« ansprechen und dass unser Gehirn, genauer: der »Sehrinde« genannte Teil unseres Großhirns, die durch das Ansprechen der Netzhaut ausgelösten Signale dann auf irgendeine, abso­lut rätselhaft bleibende Weise in optische Erlebnisse übersetzt, die wir mit den Worten »hell« oder »dunkel«, mit verschiedenen Farbbezeichnungen usw. beschreiben. [...]

Auf dem ganzen Wege, der zwischen Netzhaut und Sehrinde liegt, wird es nicht hell, auch nicht in der »Endsituation". "Hell" ist erst das optische Erlebnis hinter jener rätselhaft bleibenden Grenze , die körperliche Vorgänge und psychische Erlebnisse für unser Begriffsvermögen voneinander trennt. Hell ist es daher auch nicht in der Außenwelt, nicht im Kosmos, und zwar ganz unabhängig davon, ob es Augen gibt oder nicht. 

Ist der Kosmos in Wahrheit also dunkel? Diese Möglichkeit hatte die frage vorausgesetzt. Auch das scheidet aus. Das Eigenschaftswort »dunkel« nämlich bezieht sich aus den gleichen Gründen nicht auf eine Eigenschaft der Außenwelt, sondern beschreibt ebenfalls ausschließlich ein Seherlebnis. Man könnte auch sagen: Da der Kosmos nicht hell sein kann, kann er auch nicht dunkel sein, denn das eine ist nur als das Gegenteil des anderen denkbar.

2. Man sieht, die scheinbar so simple Frage, ob es in der Welt ohne Augen dunkel wäre, hat es in sich. Wie bei­läufig sind wir bei ihrer Erörterung auf alle wesentlichen Voraussetzungen der Problematik der so genannten Er­kenntnistheorie gestoßen. Wir haben, erstens, angenommen, dass es außerhalb des Erlebens eine reale Außen­welt tatsächlich gibt. Wir stellten, zweitens, fest, dass das, was wir erleben, nicht ohne weiteres als reale Eigenschaft dieser Außenwelt anzusehen ist. Und schließlich hat sich auch bereits gezeigt, dass es allem Anschein nach reale Eigenschaften dieser von uns vorausgesetzten Außenwelt gibt, die wir, wie zum Beispiel die außerhalb des engen Empfindlichkeitsbereichs unserer Netzhaut liegenden Frequenzen elektromagnetsicher Wellen, gar nicht wahr­nehmen können. [...]

Und als ob das alles noch nicht genug wäre: Selbst der - aller Wahrscheinlichkeit nach also nur winzige - Ausschnitt der Außenwelt, den wir überhaupt erfassen könnenwir uns von unseren Sinnesorganen und unserem Gehirn nun keineswegs etwa so vermittelt, »wie er ist«. In keinem Fall ist das, was in unserem Erleben schließlich auftaucht, etwa ein getreues "Abblild". Auch das wenige, was wir überhaupt wahrnehmen, gelangt vielmehr nicht ohne komplizierte und im Einzelnen völlig undurchschaubar bleibende Verarbeitung in unser Bewusstsein. Unsere Sinnesorgane bilden die Welt nicht etwa für und ab. Sie legen sie uns aus. Der Unterschied ist fundamental. 


Wenige Hinweise genügen, um sich davon zu überzeugen. Ein Fall wurde schon genannt: die Tatsache, dass Auge und Gehirn elektromagnetische Wellen in das Erlebnis »Licht« verwandeln und in verschiedene Farbeindrücke, je nach der Länge der am Augenhintergrund eintreffenden Wellen. Die Natur einer elektromagnetischen Welle hat nur das Geringste zu tun (Mit der einen entscheidenden Ausnahme, dass das eine die Ursache des anderen darstellt, sobald Augen und Gehirne mit im Spiele sind.) Helligkeit und elektromagnetische Wellen haben überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander.

3. Das gleiche gilt für die verschiedenen Farben. Eine Wellenlänge von 700 Millionstel Millimetern hat mit dem Farberlebnis »Rot« genauso wenig zu tun wie die Wellenlänge 400 Millionstel Millimetern mit dem Farberlebnis »Blau«. Keinerlei Ähnlichkeit besteht hier auch zwischen dem Unterschied von nur 300 Millionstel Millimetern, wie er auf der einen, der körperlichen Seite zwischen beiden Längenbereichen liegt (und der sich im Gesamtspektrum verschwindend winzig ausnimmt), und dem sich auf der anderen, psychischen Seite aus diesem Unterschied ergebenden Kontrast zwischen den Farben Rot und Blau.

Ein letztes Beispiel: Es hatte eben geheißen, dass wir nicht fähig sind, elektromagnetische Wellen außerhalb des schmalen Bandes des optisch sichtbaren »Lichts« unmittelbar wahrzunehmen. Das stimmt nicht ganz, wenn man es genau nimmt. Die Ausnahme macht die ganze Angelegenheit aber nur noch verwirrender. Denn an einer etwas anderen, etwas langweiligeren Stelle des gleichen Spektrums, und zwar etwa zwischen einem tausendstel und einem ganzen Millimeter Wellenlänge, sprechen auf sie nicht unsere Augen, sondern Sinnesrezeptoren in unserer Haut an. Wir sehen diese Wellen nicht, fühlen sie aber. Wir nehmen sie als Wärmestrahlung wahr. Man muss sich klarmachen, was das bedeutet. Alle elektromagnetischen Wellen sind wesensgleich. Immer die vollkommen gleiche Art der Strahlung. Der einzige Unterschied besteht in der  Wellenlänge. 

Je nach der spezifischen Anpassungsform unserer Sinneszellen erleben wir bestimmte Frequenzen dieser Wellen dann als Licht oder verschiedene Farben - oder aber als strahlende Wärme. 

Von der »Abbildung« einer realen Welt, »so wie sie ist«, kann da ganz offensichtlich nicht mehr die Rede sein. Man sieht, der »naive Realist« ist in der Tat naiv. Das von ihm für so grundsolide gehaltene Konzept einer durch sinnliche Wahrnehmung überprüfbaren (objektivierbaren) Realität erweist sich im Handumdrehen als reine Illusion. So einfach liegen die Dinge nicht.         Hoimar von Ditfurth (Wissenschaftsjournalist ZDF)

 

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